01.5 Boxpok-Radsätze

Jeder kennt die Baureihe 01.5 und ihre eigenartig und für deutsche Lokomotiven außergewöhnlichen Boxpokradsätze. Doch warum gab es diese Radsätze überhaupt, warum kamen diese ab Anfang der 1960er Jahre und verschwanden bis Mitte der 70er Jahre wieder? Dazu findet man in der Literatur stets nur den Hinweis, dass „Aufgrund vermehrt auftretender Speichenrisse“ die Boxpokradsätze entwickelt wurden. Mehr als dieser immer wiederkehrenden Satz findet man dazu nicht.

Speichenrisse sind nichts Neues im Eisenbahnbetrieb. Schon immer gab es diese in einer gewissen (geringen) Anzahl, sowohl Haar-Risse als auch tiefere Speichenrisse. Doch warum wurden gerade für die 01.5 die neuen Boxpokradsätze entwickelt? Allein die Theorie, für die neue Lok auch ein neues Radsatz-"DESIGN" zu haben, dürfte in der stetigen Mangelwirtschaft der DDR kaum haltbar sein. Es wurde damals nur entwickelt, was WIRKLICH GEBRAUCHT wurde.

Die Speichenrisse dürften sich schon vor 1960 bei den "Spendermaschinen" BR 01 Altbau eingeschlichen haben. Ob dieser Zustand bei den Altbau-01 für die Auswahl der Reko-Lokomotiven Einfluss hatte, bleibt ungeklärt.

Die von mir hier ausdrücklich als Hypothese geschriebene Erklärung beruht auf Gesprächen mit dem damaligen Tb-Gruppenleiter vom Bw Güsten, Herrn Alexander Moosbauer (†). Herr Moosbauer war in Schlesien gebürtig und nach 1945 als junger Reichsbahner in Güsten „hängengeblieben“. Bei gemeinsamen Besuchen auf Modellbahn-Tauschmärkten Anfang der 90er Jahre kamen wir ins Gespräch – unter anderem auch über die Geschichte rund um die Boxpokradsätze.

1962 verließ 01 504 als vierte rekonstruierte Lok dieser Baureihe das Raw Meiningen. Sicher eine gelungen Rekonstruktion, die am Triebwerk ohne grundlegende Veränderung ausgekommen ist. Und 01 504 kam aus dem Raw schon als erste Lok mit Boxpokradsätzen, für die ersten drei 01er blieb es bei den Speichenradsätzen.

Zeitsprung: Die Deutsche Reichsbahn kurz nach Schließung der innerdeutschen Grenze 1961. Im frisch geteilten Deutschland fuhren die Interzonenzüge zwischen der BRD und Westberlin. Lokwechsel war unter anderem in Bebra und Helmstedt. Und die Interzonenzüge wurden neben den Altbau-01ern auch von den neuen „Edelrennpferden“, der Baureihe 01.5 bespannt. Es muss mehrmals vorgekommen sein, das zum Beispiel in Bebra der Lokführer oder der Heizer (oder beide) für den bevorstehenden Lokwechsel „abhandengekommen waren“. Welche Blamage für den jungen Arbeiter- und Bauernstaat. Man darf annehmen, dass bei derartigen Ereignissen neben den Telefonen im Bw und bei der Rbd auch Telefone beim MfS geklingelt haben. Es musste schnelle Abhilfe her. Und wie bekam man dieses „Problem“ möglichst schnell in den Griff? Man steckte Lokpersonale auf diese Züge, die keinen Grund haben, im Westen zu verbleiben. Sprich, Lokpersonale aus Westberlin. Es bleibt unklar, ob diese Personale mit Direktionsrecht zeitweise zum Beispiel nach Erfurt versetzt wurden oder ob andere Wege gegangen wurden. Jedenfalls fuhr alsbald Westberliner Lokpersonal mit Stadtbahnerfahrung auf den hochwertigsten Schnellzügen der Deutschen Reichsbahn. Und was bei gemächlicher Fahrt mit kleinen Treib- und Kuppelradsätzen (verbotener Weise) bei der BR 74 und ähnlichen gerade noch gut geht, das hinterlässt bei 2,00 Meter großen Treib- und Kuppelradsätzen böse Folgen. Nämlich das Sanden beim Schleudern vom Triebwerk. Durch das plötzliche Abstoppen des Triebwerkes entstehen gewaltige Kräfte, die besonders bei mehrmaliger Fehlbedienung zu den besagten Speichenrissen führen. Auffällig ist, das die Mehrzahl der von Speichenrissen betroffenen Loks beim Bw Erfurt beheimatet waren. Und in der jungen DDR war man wohl damals nicht in der Lage, neue Speichenradsätze für die 01 herzustellen.

Die Berechnungen & Zeichnungen für die neuen Boxpokradsätze wurden von der VES-M Halle in Zusammenarbeit mit dem VEB Stahlwerk Ilsenburg angefertigt. Die Kuppelradsterne stellte die Stahlgießerei Silbitz her, die Treibradsterne kamen vom Stahlwerk Gröditz. Die Freude mit den neuartigen Radsätzen währte nicht lange. Unruhiger Lauf bei höheren Geschwindigkeiten war Alltag, lose Radscheiben auf der Achse gab es wohl auch mehrmals. Die Lokpersonale fuhren lieber mit der Altbau-01 als auf einer Reko mit den "Boxpokradsätzen". Die HvM ordnete schon im Frühjahr 1963 Untersuchungen zu den schlechten Laufeigenschaften der Maschinen mit den Boxpokradsätzen an, die durch das RAW Karl-Marx-Stadt vorgenommen wurden. Die Ergebnisse waren schockierend, bei den untersuchten Boxpokradsätzen gab es zum Teil erhebliche Abweichungen von den Konstruktionszeichnungen - die Wandstärken entsprachen nicht den Vorgaben - bis zu 10% Abweichungen wurden festgestellt. Diess führte zu Unwuchten im Triebwerk, was wiederum zu den bemängelten schlechten Laufeigenschaften führte.

Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre kamen aber E-Lok-Ersatzteile, die als Reparationsleistung 1945 in Richtung Osten verschwanden, aus der UdSSR zurück zur DR. Für Ersatzteile der E 18 hatte die DR aber kaum Verwendung und so wurden diese gegen Speichenradsätze für die 01 "im Westen" bei der DB eingetauscht. Win-Win für beide Bahnverwaltungen. Und so erhielt 1976 auch die letzte Boxpok - 01 503 wieder Speichenradsätze.

Trotz intensiver Recherche fand ich zu den Tauschdaten bei der BR 01.5 (wenn überhaupt) recht unterschiedliche Angaben. Wer bessere Daten und genauere Zeitangaben hat, darf sich gern bei mir melden.

Die Theorie, das Westberliner Lokführer zumindest vorübergehend auf den 01ern eingesetzt wurden, bestätigt sogar ein Satz auf Seite 137 im Buch "Die Baureihe 01.5" von Lucas/Schnabel aus dem EK-Verlag.

Und nochmals, ich stelle hier eine Hypothese auf, keinen belegende Beweis. Denn mit schriftlichen beweisen dürfte es in dieser politisch beeinflussten Reichsbahn-Sache recht „schwierig“ werden.

********